Die Bomber waren nachts gekommen, als die ganze Familie auf ihren Matten verteilt lag und geschlafen hatte. Angekündigt worden waren sie von einem kreischenden Geräusch im Himmel, das immer näher kam. Amani hatte wachgelegen, daher hörte sie die Kampfjets früher als ihre Familie näherkommen. Es war in letzter Zeit zwar nicht ungewöhnlich, dass Flugzeuge im Tiefflug über die Gegend rauschten, um die Terroristen im Norden zu bombardieren, doch dieses Mal waren sie irgendwie näher als sonst heran gekommen. Da plötzlich war ein Bomber anscheinend genau über ihrem Dach entlang geflogen. Amani hatte ihre Augen aufgerissen, da vernahm sie schon ein pfeifendes Geräusch, wie ein Unterton der Triebwerke. Doch sie hatte gewusst, was das zu bedeuten hatte und hatte ihre kleine Schwester, die sich mit ihr eine Schlafmatte teilte, unter den Achseln hochgerissen und mit sich ins nahe Bad gerissen. Panisch und mit den überraschten Schreien ihrer Schwester in den Ohren hatte sie sich noch einmal nach den Eltern nebenan umgesehen, als sie schon von den Füßen gerissen worden war.
Um sie herum war mit einem lauten Schlag die Welt untergegangen, als Staub und Trümmer auf sie und ihre Schwester niedergeprasselt waren und sie sich verzweifelt schreiend in den Armen gehalten hatten.
Sie wusste heute nicht mehr wie und wann, aber irgendwann war sie wach geworden, ein Pfeifen im Ohr, mit Blut und Schmutz auf Gesicht und Kleid. Hustend und blinzelnd hatte sie sich nach ihrer Schwester umgesehen, die zwar genauso bleich vom Staub wie sie selbst gewesen war, aber anscheinend unverletzt war, bloß bewusstlos. Nachdem Amani dann vorsichtig alle Arme, Beine und Hände durchbewegt und den gröbsten Dreck abgeklopft hatte, hatte sie mit einem brachialen Stoß die schief in den Angeln hängende Badezimmertür zur Seite gestoßen.
Der Anblick, der sich ihr geboten hatte, hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt: Ihre Wohnung war zur Hälfte zerstört worden, durch Krater in der Hauswand hatte die Sonne bereits erbarmungslos herab gebrannt und im kaum noch vorhandenen Nebenraum hatte Amani vereinzelte, zum Teil verbrannte Körper und Teile davon ausgemacht, ihre Eltern, Schwestern und Brüder, die alle dem nächtlichen Angriff zum Opfer gefallen waren.
Der Anblick hatte sie gefesselt, sie konnte sich nicht rühren, hatte bloß das Rauschen ihres Herzens im Ohr vernommen und ihr Keuchen in der staubigen Luft.
Sie war auf die Knie gefallen, Tränen füllten ihre Augen. Plötzlich hatte sie ein leises Husten wahrgenommen, das sie zunächst gar nicht einordnen konnte; ihre Schwester war bei Bewusstsein. Das Geräusch hatte eine durchschlagende Wirkung auf sie gehabt: Amani war aufgesprungen, hatte den Tränenschleier fortgewischt und war rückwärts ins Bad gestolpert, wo ihre Schwester mit großen, verständnislosen Kulleraugen an der Wand saß. Sie hatte sie auf die Arme hoch genommen, ihre Augen mit der Hand verdeckt und war mit ihr die intakte Treppe hinunter auf die Straße gerannt. Hier war ihr das Ausmaß der Katastrophe erst wirklich klar geworden. Ihr Viertel gab es nicht mehr. All die Läden in der Straße, die Häuser und Wohnungen der Nachbarn, ihre ganze Welt der letzten fünfzehn Jahre war zerstört worden, in einem Augenblick.
Panik hatte sie ergriffen, ihre Schwester hatte lauthals angefangen zu weinen. Amani hatte sich umgesehen, eine Decke auf dem Boden erblickt und sie gegriffen, dann war sie losgerannt, mit der Decke und ihrer Schwester auf dem Arm.
Ohne Pause war sie so bis zum Stadtrand gelaufen, wo weitere Menschen in Schockstarre umherwanderten, ohne ein richtiges Ziel vor Augen. Amani hatte ihre Schwester abgesetzt, ihr die Decke umgelegt und sich abermals umgeschaut. Eine alte Frau war plötzlich in ihr Blickfeld getreten, hatte ihr wortlos einen Kanister Wasser und ein paar Feigen in die Hand gedrückt, dann war sie zurück in Richtung der Trümmer gewandert. Amani hatte auf die Feigen gestarrt, den Horizont beobachtet, ihre Schwester getröstet, dann wieder die Feigen angestarrt.
Schließlich hatte sie einen Entschluss gefasst.
Dieser Entschluss lag jetzt fünf Wochen zurück. Fünf Wochen voller Strapazen, Wunden, Hunger und Durst und dem ewigen Weinen ihrer Schwester. Sie hatte versucht, ihr zu erklären, dass Mama und Papa nicht mehr waren, dass sie auf sich gestellt waren. Doch entweder waren ihr die Worte nicht über die Lippen gekommen, oder ihre Schwester hatte es nicht verstehen wollen. Also weinte sie weiter.
Ihre Füße hatten sie durch die Wüste getragen, weiter, immer weiter. Unterwegs waren sie immer wieder auf andere Flüchtlinge, ja zwei Mal sogar auf Gruppen der Extremisten getroffen. Dann hatten sie sich unter der Decke in Erdlöchern versteckt, bis die Autos der Männer vorbeigefahren waren. Die anderen Flüchtlinge, die sie getroffen hatten, waren sehr unterschiedlich gewesen. Eine komplette Großfamilie hatte sie ein paar Tage aufgenommen und ihre wenigen Vorräte mit ihnen geteilt, andere wiederum hatten sie in ihrer eigenen Not ausgeraubt.
Jetzt liefen sie mit nur wenig Wasser und ohne die Decke oder Nahrung durch die sengende Hitze. Ihre Füße brannten, die Steine im Boden rissen immer wieder neue Kratzer in die Sohlen. Die Sonne brannte vom Himmel und beide Mädchen hatte spröde Lippen und Schwindel vom Sonnenbrand, der ihre freien Körperflächen bedeckte.
Amani hatte gehört, es gebe Hilfe, wenn man sich nur weit genug nach Norden durchschlagen konnte, in die Türkei, das reiche Nachbarland ihrer Heimat.
Immer wieder waren sie auch von den Kampfjets der Armee überflogen worden, was bei ihrer Schwester jedes Mal eine Panikattacke ausgelöst hatte. Doch in der letzten Zeit waren die Flugzeuge weniger, die Menschen dafür häufiger geworden. Tausende anderer Flüchtlinge zogen in die gleiche Richtung wie sie. In der Hoffnung, dass sie an ihrem Bestimmungsort Hilfe finden würden, waren die beiden Mädchen ihnen gefolgt.
Heute war es soweit: Am Horizont hatte sich eine große Masse Menschen versammelt, daneben Soldaten und Armeefahrzeuge. Hier und dort blitzte rot die türkische Flagge auf. Die Hoffnung ließ Amani schneller laufen. Sie nahm ihre Schwester wieder auf die Arme und zusammen liefen sie dem Grenzkontrollpunkt entgegen. Es war laut, soviel lauter als all die letzten stillen Wochen in der Wüste. Menschen riefen durcheinander, einige weinten, andere lagen im Staub. Amani kämpfte sich nach vorne durch, bis sie vor einem Soldaten in Uniform mit einem Gewehr stand. Still blickte sie ihn an, er blickte zurück. Er fragte sie in gebrochenem Arabisch nach ihren Eltern, doch Amani schüttelte nur den Kopf, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie bemerkte langsam, dass die Soldaten niemanden hindurch ließen, sondern alle Flüchtlinge hier abwiesen.
Verzweiflung umklammerte ihr Herz und lähmte ihre Gedanken. Sie wusste nicht, wohin. Plötzlich wurde ihr Schwarz vor Augen und sie merkte noch, wie sie dem Soldaten mit dem ernsten Blick vor die Füße fiel.
Doch er ließ sein Gewehr los und fing sie auf, nahm Amani und ihre Schwester auf die Arme und trug sie am Schlagbaum der Station vorbei in ein Zelt. Ein vorgesetzter Offizier setzte im Vorbeigehen zu einem Tadel an, sah dann aber die Mädchen in den Armen des Soldaten und besann sich eines Besseren. Er nickte bloß in Richtung eines großen, sandfarbenen Zeltes.
Als Amani zu sich kam, lag sie auf einer Liege, eine Infusionsnadel im Arm und mit einer groben Wolldecke zugedeckt. Sie richtete sich auf die Ellbogen auf und sah nach rechts, wo ihre Schwester schlafend auf einer identischen Liege lag. Als sie sich nach links umschaute, saß dort eine alte Frau, die sie schweigend anlächelte, ihr Gesicht streichelte und ihr zwei Feigen hinhielt.
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